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Dass ein Waldspaziergang vitalisiert und düstere Gedanken vertreibt, mögen die meisten schon am eigenen Leibe erlebt haben. Was aber ist von „Waldmedizin“ zu halten oder dem aus Japan kommenden „Waldbaden“? Steckt in ihm nur ein Medienhype oder braucht der urbane, durchtechnisierte Mensch tatsächlich so etwas wie „Vitamin W“, um gesund und froh zu bleiben?

„Ich erinnere mich an die grünen Pappelwälder im Frühling und Sommer und an die gelben Blätter im Herbst. Mit meinen Freunden spielte ich Versteck zwischen den Bäumen, dabei begegneten wir Kaninchen und Füchsen …“, schreibt Qing Li in seinem Buch „Die wertvolle Medizin des Waldes“. Es gilt als Standardwerk für all jene, die sich mit Waldtherapie beschäftigen. Denn Li ist der Vater des Waldbadens, in seiner Landessprache: Shinrin-Yoku. Seit 30 Jahren erforscht der Mediziner die heilsame Kraft des Waldes, die dieser genau dann entfaltet, wenn man in ihn mit allen Sinnen eintaucht. Wie so viele assoziiert auch Li, wenn er an den Wald denkt, durchweg wohlige Erinnerungen, meist aus Kindertagen, und positive Sinneseindrücke wie den typischen Waldgeruch.

Heute lebt Prof. Dr. Qing Li nicht mehr am Wald, sondern in einer Stadt – „zusammengepfercht“ wie 78 Prozent aller Japaner. Nahe der Nippon Medical School, an der er lehrt, liegt ein Park, den er in seinen Pausen häufig besucht. Ein wahrer Glücksfall in einer 13-Millionen-Metropole wie Tokio und, folgt man der Lehre vom Waldbaden, eine Art Überlebensfaktor: Japan ist seit den 1980er Jahren bekannt für „Karoshi“, den plötzlichen Tod durch Überarbeitung. Obwohl die Regierung per Gesetzgebung gegensteuert, gaben noch 2016 ein Drittel aller Firmen an, dass ihre Mitarbeiter monatlich 80 und mehr Überstunden leisteten. Die Folge: Erschöpfung, Überreizung, Stress. Und hier, genau hier, soll der Wald gegensteuern. Von ihm besitzt Japan mehr als genug, zwei Drittel des Inselstaats sind mit Bäumen bedeckt. Zwischen ihnen liegen heute 62 zertifizierte Waldtherapie-Zentren, die pro Jahr bis zu fünf Millionen stressgeplagte Menschen behandeln. Shinrin-Yoku gilt als eine anerkannte Heilpraxis, gefördert vom japanischen Landwirtschaftsministerium.

Wie Japan ist auch Deutschland eine Waldzivilisation. Nicht umsonst wurde unser Wald im Bundeswaldgesetz als allgemein verfügbarer Erholungsraum verankert. Auch wir assoziieren mit ihm viel Gutes, er ist ein typischer Sehnsuchtsort, darin einen sich die Dichter der Romantik mit den heutigen Digital Natives. Was aber ist dran an der Heilkraft der Bäume? Gibt es so etwas wie Waldmedizin? Die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München befasst sich seit 2013 mit Fragen dieser Art, ursprünglich beauftragt vom Land Mecklenburg-Vorpommern, das heimische Wälder für therapeutische Zwecke nutzen wollte. Prof. Dr. Dr. Angela Schuh vom Lehrstuhl „Public Health und Versorgungsforschung“ nahm sich der Aufgabenstellung an. Sie bewertete die internationale Studienlage, verfasste eine Literaturübersicht und einen Kriterienkatalog für einen „Kur- und Heilwald“.

Der erste seiner Art ist bereits eröffnet: Er liegt in Heringsdorf auf der Insel Usedom und umfasst 180 Hektar. Seine Besucher sind Patienten aus den umliegenden Reha-Kliniken, die von geschulten Physio- oder Waldtherapeuten angeleitet werden. Denn manch einem fällt das Waldbaden gar nicht leicht. „Das beginnt schon bei der verminderten Schrittfrequenz, langsames achtsames Gehen über einen Waldweg ist für viele eine echte Herausforderung“, erklärt Gisela Immich, wissenschaftliche Mitarbeiterin am besagten LMU-Lehrstuhl, Buchautorin und Expertin in Sachen Waldbaden. Sie versteht unter diesem Begriff das absichtslose Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes, das sehr entschleunigend wirken würde. Sie spricht davon, auf Vogelstimmen zu lauschen, auf einen Bach, davon, dem Wind zuzuhören, wie er in den Baumkronen spielt. Sie ermuntert dazu, mit der Hand das kühle Moos zu erspüren, die raue Rinde eines Baums, würzige Herbstluft zu schnuppern oder die schon wärmende Frühlingssonne auf der Haut zu fühlen. „Waldmuße“ nennt das Immich und setzt sie in harten Kontrast zum technisierten, schnelllebigen, auf Effektivität getrimmten Arbeitsmodus, in dem wir uns normalerweise befinden. Es ginge darum, „die Sinne zu öffnen, die wir Städter, um Lärm, Gestank und Reizüberflutung zu entgehen, automatisch verschließen“, sagt sie. 

Kaum jemand wird dieser Sinnhaftigkeit widersprechen wollen, aber gehört die Regeneration, die Liebe zur Natur, das „Verlieren von Zeit und Raum“ nicht eher in die Abteilung Freizeit, Urlaub, Wellness? Muss es denn gleich um Heilkraft gehen? Ein Blick in die medizinische Studienlandschaft hilft weiter und lässt zusammenfassend Folgendes sagen: Der Waldbesuch, wie Immich ihn beschreibt, entspannt und baut nachweislich Stress ab. Ein absinkender Cortisol- und Adrenalingehalt im Blut, ein ruhigerer Herzschlag und ein niedrigerer Blutdruck zeigen dies messbar. Durch die Erholungswirkung kommt unser Immunsystem wieder ins Gleichgewicht. Anzahl und Aktivität der im Blut befindlichen Killerzellen, die krankhafte Körperzellen bekämpfen, steigen wieder an. Von ihnen wird später noch die Rede sein.

„Alles zusammen verweist auf das präventive Potenzial des Waldes, er versteht es, unsere Immunabwehr genauso wie unser Herz-Kreislauf-System zu kräftigen“, fasst Immich zusammen. „Waldtherapie hat nachgewiesene Effekte auf die körperliche und seelische Gesundheit.“ Auch bei Schlafproblemen und anderen Zivilisationserkrankungen kann diese, wissenschaftlich dokumentiert, helfen. Die saubere, frische Luft, das gesamte Waldklima lindern zudem Atemwegserkrankungen. „Bäume sorgen für Kühle und Luftfeuchtigkeit, sie mildern die Sonneneinstrahlung, sie filtern die Luft, sie dämpfen Geräusche. Ihr Kronendach wirkt behütend, die Bewegung darunter tut gut. Das alles hilft, zu entschleunigen“, erklärt Immich.

Der Wald wirkt auch als Stimmungsaufheller, viele internationale Studien dokumentieren eine deutliche Verminderung von Anspannung, Wut, Erschöpfung und Depression. Für eine Volkswirtschaft wie die unsere ist das durchaus interessant, immerhin hat sich die Anzahl der Fehltage durch psychisch bedingte Erkrankungen in den letzten 40 Jahren verfünffacht. Häufigste Diagnose: Depression. Kann der Wald also zu einem – präventiven – Antidepressivum avancieren? Nicht auszuschließen, so zeigte beispielsweise eine japanische Untersuchung an 500 Städtern eine signifikante Verringerung von depressiven Gefühlen, Feindseligkeit und Angst – und das bereits nach einem zweieinhalbstündigen Waldbesuch. Zugleich steige das Gefühl von „mehr Lebendigkeit“.

Aber es gibt auch Forschungsergebnisse, bei denen Immich die Stirn runzelt, etwa die, die im Medien-Dschungel unter der Schlagzeile „Wundermittel gegen Krebs“ laufen. Auch Waldbade-Pionier Qing Li ist dabei. Dieser fand beispielsweise heraus, dass nach drei Tagen und zwei Nächten im Wald die Anzahl und die Aktivität besagter Killerzellen um rund 50 Prozent ansteige. Eine leichte Erhöhung zeige sich auch noch 30 Tage nach dem Waldbesuch, so Li. So weit, so bemerkenswert. Für Immich geben all diese Ergebnisse aber nur wertvolle Hinweise, denen die Wissenschaft weiter nachgehen sollte – mehr nicht. Denn Li führte seine Vergleichsstudien mit nur zwölf oder 20 Probanden durch, durchweg junge, gesunde Studierende, ohne Kontrollgruppe und in kurzen Zeiträumen. Hier wünscht sich die deutsche Wissenschaftlerin insgesamt solidere Standards und ein robusteres Studiendesign. Denn eins ist klar: Sollte es die Waldmedizin auch hierzulande einmal auf Rezept geben, dann brauchen Krankenkassen belastbare Ergebnisse. Bei welchem Krankheitsbild auch immer.


Wirken deutsche Buchenwälder wie japanische Nadelbäume?

Viele Studien zur Waldtherapie entstanden in Japan, dem Mutterland des Waldbadens. Ob sie sich einfach so auf Deutschland übertragen lassen, muss noch geklärt werden. Denn in Japan wachsen andere Bäume, die auch andere Duft- und Wirkstoffe abgeben: Der wohl bekannteste ist die Sugi, die Japanische Zeder, ein Nadelbaum (unteres Foto). Der ursprüngliche Baum in deutschen Gefilden ist die Buche (mittleres Foto), ein Laubbaum. Die länderspezifischen Wälder unterscheiden sich also stark – möglicherweise auch in ihrer Wirkungsweise auf den Menschen.


Text: Kerstin Rubel. Publikation: Zum Hofe (01/2020). Herausgeber: QS Qualität und Sicherheit. Bildnachweis oben: Shutterstock (Verena Joy, Paul Aniszewski, ko won sang)