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Zu verstehen, wie ein Gehirn funktioniert, gilt als eine der vornehmsten Herausforderungen für die Wissenschaft. Seit den 1960ern widmet sich ihr der Berliner Neurobiologe Prof. Dr. Dr. Randolf Menzel. Er forscht an etwas sehr Kleinem: dem Bienenhirn. Denn Honigbienen leben – wie Menschen – als soziale Tiere in einem Volk, damit stehen sie uns näher als gedacht.

Seit 50 Jahren teilen Sie Ihr Leben mit Bienen. Wie hat Sie das beeinflusst, Ihre Wahrnehmung, Ihren Blick auf die Welt?

„Die Welt ist nicht so, wie wir sie als Menschen sehen. Es gibt viele, so viele spannende Phänomene, die wir gar nicht wahrnehmen, die aber möglicherweise doch auf uns wirken – und essenziell für andere Tiere sind. Eine Biene sieht beispielsweise nicht nur den Himmel mit seinen Wolken, sondern vielzählige Muster, an denen sie sich orientieren kann. Mit ihren 7.000 Facettenaugen besitzt sie einen Rundumblick, wobei sie, anders als der Mensch, auch ultraviolettes Licht verarbeiten kann. Ihre Farbwahrnehmung ist anders. Nicht weniger bemerkenswert sind auch ihr Kommunikations- und Orientierungsvermögen, für die sie sich auch elektrostatischer Felder und Erdmagnetfelder bedient. Mir ist mit der Zeit diese andere Weltwahrnehmung so sehr in Fleisch und Blut übergangen, dass mir gar nicht mehr auffällt, wie sehr ich wieder für das Tier mitgedacht habe. Das geht mir dann erst im Gespräch mit einem anderen Menschen auf.“

Wenn man Ihnen zuhört oder in Ihren Berichten liest, fällt immer wieder das großes Staunen auf, dem Sie anheimfallen …

„Oh ja, dieses Staunen ist wichtig für uns Forscher. Starte ich ein Experiment, dann gibt es eine gewisse Erwartungshaltung. Tritt nun etwas ganz Neues ein, dann ergibt sich Verwunderung, Diskrepanz, Skepsis. Die Lernpsychologie hat dies mit der sogenannten Differenzregel schön herausgearbeitet. Sie kreist um die spannende Frage: Wenn es nicht so ist, wie ich denke, wie ist es denn dann? Und da sind wir bei einem wichtigen Punkt: bei Motivation.“


Was Randolf Menzel zum Staunen bringt, ist etwa folgende Entdeckung: 30 bis 60 Tage lebt eine Honigbiene als soziales Tier in einem Volk. Während dieser Zeit durchläuft sie eine Karriere, die mit der Versorgung von Königin und Brut beginnt, mit dem Nektar- und Pollensammeln endet. Wenn allerdings eine neue Königin den Stock bezieht, dann offenbart sich etwas Wundersames: Die alte Königin sucht sich mit einem Schwarm Getreuer eine neue Bleibe. Jetzt kann sich die Karriereleiter mit einem Mal umkehren: Aus einer Sammlerin wird erneut eine Brutpflegerin, von jetzt auf gleich kann die Biene einst ausgeübte Kompetenzen abrufen. Zudem tauchen die Tiere in eine Art Jungbrunnen, was etwa ihrer Lernfähigkeit zugutekommt. Ihre gewöhnliche Lebensspanne verlängert sich deutlich.


Das zentrale Leistungskriterium aller Neurobiologen heißt: Lernen. Gemeinhin wird es höher entwickelten Säugetieren zugeschrieben. Kann auch ein Insekt lernen?

„Auch das einen Kubikmillimeter kleine Bienenhirn weiß zu lernen – und auf seine Weise zu denken. Es verfügt über Kurz- und Langzeitgedächtnis, auf das der Schlaf entscheidend wirkt. Vieles erinnert uns also an den Menschen. Zudem lässt sich eine Biene wie der Pawlow’sche Hund dressieren, etwa so: Eine blaue Karte trägt einige Tropfen Zuckerlösung. Landet die Biene auf ihr, wird sie mit der Süßigkeit belohnt. Nach zwei, drei Wiederholungen erkennt sie die Farbe und fliegt direkt – ob mit oder ohne Zuckerlösung – zu ihr. Ein klarer Fall von Konditionierung.“

Und all diese Fähigkeiten, die Sie erforscht haben, machen die Biene zu einem intelligenten Wesen?

„Richtig. Die Intelligenz eines Hirns zeigt sich im Lernvermögen. Eine speziesübergreifende Maßeinheit für Intelligenz – etwa die Anzahl der Neuronen oder das Gewicht oder Volumen der Hirnmasse – gibt es nicht.“


Menschen- und Bienenhirn besitzen einen völlig anderen Bauplan. Trotzdem gilt, wie für alle Tiere: Zwei Prozent wiegt es in Relation zum gesamten Körpergewicht. So bemisst das Hirn eines 60 Kilogramm schweren Menschen 1.245 Gramm. Bei einer Biene, die nur 80 Milligramm auf die Waage bringt, sind es zwei Milligramm (Hirnmasse inklusive nervenzellendichtem Bauchmark). Eine Million Neuronen besitzt das sandkornkleine Bienenhirn, 90 Milliarden das Menschenhirn. Jede einzelne Nervenzelle stellt dabei eine komplizierte Informationsverarbeitungseinheit dar und agiert mit rund 1.000 anderen Neuronen. Wie komplex diese Schaltzentrale arbeitet, zeigt ihr hoher Energieverbrauch: Er beansprucht 20 Prozent der insgesamt zur Verfügung stehenden Energie – wohlgemerkt bei nur zwei Prozent Körpermasse. Bei anstrengenden geistigen Tätigkeiten kann dieser Wert auf 40 Prozent steigen.


Sie haben festgestellt, dass die neuronalen Prinzipien speziesübergreifend zu sein scheinen. Was lässt sich aus dem Bienenhirn denn hinsichtlich des Menschen herauslesen?

„Die Biene zeigt der Neurowissenschaft, wie ein noch so kleines Hirn plant, kombiniert, entscheidet, Regeln erkennt und anwendet, wie sich angeborene Mechanismen mit neu Erlerntem verschränken. Sie kann zum Modellorganismus für den Menschen werden, in dem es hilft, universelle Hirnfunktionen mehr und mehr zu verstehen. So haben wir beispielsweise herausgefunden, dass ein Bienenvolk dann am erfolgreichsten ist, wenn es sich aus höher und weniger intelligenten Insekten mischt. Ein Volk aus sehr vielen intelligenten Bienen fällt dagegen ab. Die soziale Mischung scheint also eine gute Strategie für Evolution zu sein.“

Wie kommt die Biene, letztlich ein Insekt unter vielen, überhaupt zu ihrer herausgehobenen Stellung?

„Die Biene zeigt, wie wir schon feststellten, individuelles Lernvermögen. Sie kann sich, ähnlich wie wir Menschen, über ein Symbolsystem verständigen. Die Fähigkeit, in ihrem Sozialgefüge voneinander zu lernen, haben die Bienen perfektioniert. Die Kombination aus kognitiver Leistung und sozialem Leben macht sie so einzigartig.“


Berühmtheit erlangte der „Schwänzeltanz“ der Biene, für dessen Entdeckung seinerzeit der Nobelpreis (Karl von Frisch, 1973) vergeben wurde. Über die Tanzkommunikation kann eine einzelne Biene von kilometerweit entfernten Nektar- oder Harzfunden berichten. Ihre Arbeitskolleginnen informiert sie mit genauen Angaben über Flugrichtung und Entfernung. Wie macht sie das? Beim Tanzen erzeugt ein einzelnes Tier ein Muster aus elektrostatischen Feldern, die ihre Artgenossen wiederum mit ihren Antennen wahrnehmen können. Alle Insekten in einem Stock sind positiv geladen. Messen die Neurobiologen nun die elektrischen Felder, können sie den Stock „belauschen“. Über 600.000 unterschiedliche Tänze registrierte das Team um Randolf Menzel allein in einem Sommer. Ebenso staunenswert: Wenn eine Biene im Experiment eine Stelle entdeckt, die ausnahmsweise mit doppelt dosierter Zuckerlösung versehen ist, versetzt sie das in solche Begeisterung, dass sich selbst die beobachtenden Forscher angesteckt fühlen. In Höchstgeschwindigkeit kehrt sie zu ihren Volksgenossen im Stock zurück und kommt aus dem Tanzen gar nicht mehr heraus.


Die Robotertechnologie ist im Moment ja in aller Munde. Ich habe mitbekommen, dass Sie von einer Robo-Biene träumen, die mit den Honigbienen tanzend kommunizieren könnte.

„Wir haben sie sogar schon! Die Übertragung unserer Botschaften besitzt bislang jedoch traurige Ineffizienz, wir arbeiten an der Ursachenforschung. Denn mit der Robo-Biene eröffnet sich eine Fülle neuer Fragestellungen, die sich allesamt mehr um Inhalt und Deutung von Kommunikation drehen. Gibt es bei den Tänzerinnen beispielsweise einzelne Charaktere – also die Engagierte oder die Gelangweilte – und wirken diese auf die Zuschauer? Oder: Kann eine sogenannte Nachläuferin eine Falschaussage erkennen? Etwa dann, wenn ein Fundplatz an einer unmöglichen Stelle angegeben wird, in einem See etwa. Hierbei könnte uns die Robo-Biene exzellente Hilfe leisten und auch eine Vielzahl von notwendigen Kontrollexperimenten ermöglichen.“

Und wenn Sie noch ein wenig weiter blicken: Wohin geht die neurobiologische Reise?

„Die Molekular-Genetik und die derzeitige Forschung an der Fruchtfliege weisen den Weg. Es gilt dabei, einzelne Neuronen und einzelne ihrer Netzwerke für bestimmte kognitive Leistungen – etwa Gedächtnisbildung – zu definieren, sie messtechnisch zu erfassen. Bislang beherrschen wir die Methoden leider noch nicht gut genug, um sie auch an der Biene anzuwenden, aber das wird kommen. Als soziales Tier, das zudem eine hohe kognitive Leistung erbringt, wird ihr dann eine Schlüsselrolle zukommen. Sie wird ganze Themenbereiche eröffnen, die auch für unsere Gesellschaft bedeutsam sind. Denn wenn, beispielsweise, unsere besondere menschliche Hirnleistung gar nicht so einzigartig ist, wie wir bislang meinen, dann ändert sich ein ganzes Menschenbild.“


Erst das Tier, dann der Mensch. Diese Suchbewegung ist typisch für die Neurobiologie: Sie nimmt zunächst Messungen an Tierhirnen vor, um die gewonnenen Daten dann mit menschlichen Hirnen zu vergleichen. Speziell die Biene zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch unter experimentellen Bedingungen all ihre Fähigkeiten zur Schau stellt. So stattet Randolf Menzel sie beispielsweise mit kleinen Antennen aus oder mit winzigen Nummernschildern, deren Codes automatisch ausgelesen werden können. Die Biene irritiert das nicht. Gesunde Menschenhirne zu erforschen ist dagegen – aus ethischen Überlegungen heraus – überhaupt erst seit rund 25 Jahren möglich. Die bildgebenden Verfahren, etwa die Computertomografie, wurden neben der modernen Computertechnologie zum Motor der Neurobiologie.  

Der Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Randolf Menzel leitete über 30 Jahre lang das Neurobiologische Institut der Freien Universität Berlin. Der Leibniz-Preisträger gilt als Koryphäe in der tierischen Intelligenzforschung, die ihn seit fünf Jahrzehnten beschäftigt. Schon in seiner Doktorarbeit widmete sich der Berliner, dessen Vorväter sich ebenfalls der Biologie verschrieben hatten, der Biene. Der vielfach ausgezeichnete Zoologe und Neurobiologe publizierte 2016 das biografisch geprägte Sachbuch „Die Intelligenz der Bienen“ (Knaus Verlag), unterstützt von dem Wissenschaftsautor Matthias Eckoldt.

Text: Kerstin Rubel. Publikation: Zum Hofe (02/2016). Herausgeber: QS Qualität und Sicherheit. Bildnachweis: Shutterstock (Aleksandr Rybalko, ahmad yaaser shamsuddin)