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Prof. Dr. Dirk Brockmann, Physiker und Komplexitätsforscher, ist ein Mann mit vielen Interessen: EHEC und Ebola, Tweets und Facebook-Posts, Schweineställe und Bienenstöcke, internationaler Flugverkehr und Laborproben mit multiresistenten Bakterien. Wer oder was auch immer wertvolle Daten liefert, landet im Fokus der Digitalen Epidemiologie und damit in Brockmanns – brandaktuellem – Forschungsfeld. In ihm entstehen Computersimulationen, die die Ausbreitung von Infektionserkrankungen vorhersagen. 

„Wenn wir über Infektionskrankheiten nachdenken, dann liegt in der fortschreitenden Digitalisierung nicht weniger als eine Revolution. Sie ist vergleichbar mit der, die die Erfindung des Mikroskops für die Mikrobiologie brachte.“ Gleich zu Beginn schlägt Dirk Brockmann hoch auf. Grund hat er genug. Der Berliner Komplexitätsforscher lehrt an der Humboldt-Universität, gleichzeitig leitet er am Robert Koch- Institut (RKI) das Projekt „Epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten“. Das RKI überwacht die deutsche Volksgesundheit im Auftrag der Bundesregierung. Erklärtes Ziel ist, Krankheiten, speziell Infektionen, frühzeitig zu erkennen, zu verhüten und zu bekämpfen. Dabei hilft nun die Digitale Epidemiologie, die mit ihren Computersimulationen ähnlich einer Wettervorhersage funktioniert. Ähnlich sind auch die Fragestellungen: In welchem Tempo wird sich ein Phänomen ausbreiten? Wann wird die Infektion den nächsten Ort erreicht haben? Wo empfehlen sich heute schon welche Impfungen? Und: Wo lag der Ursprungsort des Erregers?

Dabei ist klar: Entscheidend für Infektionskrankheiten und ihre Ausbreitung sind unsere Mobilität und die Menge unserer Kontakte. Klar ist aber auch: Nie war eine Gesellschaft mobiler, nie dynamischer als die heutige. Ein anschauliches Beispiel, wie sehr sich die Übertragungswege beschleunigt haben, liefert die Pest des 14. Jahrhunderts. Von Südeuropa bis nach Skandinavien zog sie eine tödliche Spur der Verwüstung, allerdings in einem gemächlichen Tempo: Nur drei bis fünf Kilometer schritt sie pro Tag voran. Anders der H1N1-Erreger (Schweinegrippe) im Jahre 2009: 250 bis 400 Kilometer legte er zurück. Täglich. In beiden Fällen spricht man von einer Pandemie, einer um sich greifenden Infektionskrankheit, die einst Länder, heute Kontinente überschreitet. Es sind daher die dynamischen Bewegungsmuster von Menschen, die mobilen Strukturen, die Regelmäßigkeiten, die sich in ihnen erkennen lassen, für die sich die Digitale Epidemiologie interessiert. Auf ihnen fußt die Vorhersagbarkeit einer sich ausbreitenden Infektion, die sogenannte Modellierung.

„Mit den gigantischen und zudem noch heterogenen Datenmengen, mit denen wir es zu tun haben, kommen die traditionellen statistischen Methoden allerdings nicht mehr zurecht“, erklärt der Physiker. Die epidemiologische Modellierung braucht die künstliche Intelligenz, das maschinelle Lernen, den Algorithmus, um wiederkehrende – und auch gänzlich unerwartete – Strukturen zu erkennen. Woher kommen aber all die Daten? Etwa aus Transport- und Mobilitätsnetzwerken. Allein den internationalen Flugverkehr nutzen drei Milliarden Passagiere pro Jahr, wobei sie 4.000 Flughäfen weltweit frequentieren. In ihrem Gepäck: reichlich Krankheitserreger, die wiederum Brockmann interessieren. Auf Grundlage des globalen Flugnetzes entwickelte er das Modell „Effektive Distanz“, das es bis in die Wissenschaftszeitschrift „Science“ (13.12.2013) brachte. Es fußt auf der Idee, dass geografische Entfernungen, wie sie traditionelle Landkarten darstellen, durch „effektive“ ersetzt werden müssen. Am Beispiel des Flughafens Tegel zeigt sich etwa, dass Berlin – „effektiv“ betrachtet – ähnlich nahe an Paris (CDG) liegt wie Frankfurt (FRA). Obwohl, rein geografisch, die französische Hauptstadt von der deutschen doppelt so weit entfernt ist. Auch die geradezu zentrale Bedeutung einzelner Verkehrsknotenpunkte wie Peking (PEK) wird deutlich. Würde sich – um beim Beispiel zu bleiben – ein Erreger von Berlin aus verbreiten, müsste Peking spezielle Aufmerksamkeit zukommen.

Ein anderer Daten-Pool, aus dem die Digitale Epidemiologie schöpft, findet sich in den sozialen Netzwerken mit all ihren Posts, Tweets („Hilfe! Ich habe Fieber“) und Hashtags (#Grippe). „Wie es um das eigene Befinden steht, kann ein jeder der Welt direkt mitteilen. Das ist tatsächlich völlig neu“, so Brockmann, der die Netzwerk-Kommunikation als sprudelnde Datenquelle schätzen lernte. Auch häufig verwandte Google-Suchbegriffe stehen auf der Vorliebenliste des Wissenschaftlers. Den ersten Platz jedoch nehmen die ganz individuellen Daten ein, solche, die unsere Handys, aber auch unsere Fitness- Armbänder und all die anderen smarten Begleiter ständig von uns sammeln. GPS-Sensordaten etwa zeigen, wie wir – nebst unseren Bakterien und Viren – durch die Welt gehen. „Daten spenden“ heißt deshalb eine neue Idee, die Komplexitätsforscher wie Brockmann begeistert. Ähnlich dem „Organ spenden“ geht es darum, etwas ganz Persönliches, Wertvolles einem guten Zweck, einem höheren gesellschaftlichen Sinn zur Verfügung zu stellen: „Im Moment liegen unsere Daten in den Händen von Unternehmen wie Google und Apple. Ein ungeheurer Wert, der nur wenigen wirklich bewusst ist. Konzerne machen mit ihnen ihren Profit“, setzt der 48-Jährige an. „Was wäre nun, wenn wir unsere zutiefst persönliche Daten-Autonomie wieder in die Hände nehmen würden? Wir könnten selbst entscheiden, wem oder welchem Zweck wir etwa unsere Bewegungsmuster zur Verfügung stellen möchten. Einer wissenschaftlichen Studie etwa oder der gesellschaftlichen Gesundheit an sich.“

Aber noch ist es nicht so weit und Brockmann fokussierte sich jüngst auf Völker mit weniger verzwickten Persönlichkeitsrechten. Die Rede ist von Bienen und Schweinen. „In der Tat beschäftige ich mich in letzter Zeit intensiv mit Tieren“, erklärt er. Ein weites, unverstelltes Feld, in dem sich Daten aller Art leicht zusammentragen lassen. Schließlich sind viel zu viele Fragen noch offen, die der Wissenschaftler dringend beantworten möchte: „Wie verlaufen die Übertragungswege von Infektionen? Wer hatte – ganz genau – mit wem Kontakt? Wie entwickelt sich das Mikrobiom innerhalb einer sozialen Gruppe? Was für Wege nehmen Bakterien, welcher Art auch immer, im sozialen Netzwerk?“ Ob es sich dabei um einen Schweinestall, einen Bienenstock oder um eine Großstadt handelt, ist dabei – fast – zweitrangig. Es geht immer um die Gemeinsamkeit, die übertragbare universelle Struktur. Und Brockmanns große Kunst liegt darin, im Komplexen wieder das ganz Einfache zu entdecken.


Prognostizierte Antibiotikaresistenzen

Seit Jahresbeginn beschäftigt sich Prof. Dr. Dirk Brockmann mit multiresistenten Bakterien. Mit dem Ziel, eine repräsentative Datenbasis zur Antibiotikaresistenz in Deutschland zu erarbeiten, sammelt das Robert Koch-Institut bereits seit 2007 die Daten von klinisch relevanten Erregern (Projekt: Antibiotika- Resistenz-Surveillance). Lieferanten sind Labore, die Millionen von Proben aus medizinischen Versorgungseinrichtungen, aus Kliniken und Arztpraxen mikrobiologisch untersuchen. Brockmann und sein Team setzen nun maschinelle Lernverfahren auf die vorhandenen Daten an, um herauszubekommen, welche Faktoren zur Bildung neuer Resistenzen und ihrer Kombinationen führen. „Uns interessiert außerdem, welche Umstände in einem Krankenhaus zusammenkommen müssen, damit sie entstehen. Wie sind die bakteriellen Übertragungswege? Wie die Bewegungsstrukturen von Patienten und Personal? Gibt es regionale Unterschiede?“, erklärt Brockmann die Fragestellungen des Projekts. „Am Prozessende soll eine Computersimulation stehen, die frühzeitig anzeigt: ‚Achtung‚ an dieser Stelle kommen einige Faktoren zusammen, die auf die Bildung einer neuen Resistenz hinweisen.‘ Dann kann die Medizin handeln, bevor überhaupt etwas geschieht.“


Text: Kerstin Rubel. Publikation: Zum Hofe (02/2018). Herausgeber: QS Qualität und Sicherheit. Bildnachweis: Shutterstock (SFIO CRACHO)