Wildgewordenes Westfalen: Wisente auf 10.000 Hektar

Wer einmal einem Wisent im Wald begegnete, der weiß, warum sie als „Könige der Wälder“ gelten. Die friedlichen Pflanzenfresser durchstreifen seit 2013 – frei lebend – das Rothaargebirge im Süden Westfalens. Hier ist die „Wisent-Welt Wittgenstein“ zu Hause, ein für Westeuropa einzigartiges Artenschutzprojekt. Wisent-Ranger Jochen Born hat sich Zeit für einen Besuch genommen.
Wisent-Ranger – das klingt nach Freiheit und Weite, nach viel frischer Luft, harter, aber echter Arbeit. Wisent-Ranger – das ist ein Job für ganze Kerle. Oder nicht? Bei Vorstellungen dieser Art muss der bodenständige Jochen Born ein wenig schmunzeln. Ja, für ihn ist es ein „Traumjob, aber eben auch ein Job. Und“, so der staatlich geprüfte Landwirt, „auch Wisente sind Rindviecher.“ Gut, dann also Schluss mit Wildwest-Romantik und rein in ein außergewöhnliches Natur- und Artenschutzprojekt, das 2010 im Landkreis Siegen-Wittgenstein startete: Es geht um die Wiederansiedlung der nahezu ausgerotteten Wisente, einer Rinderart, die sich bis vor 400 Jahren auch in unseren Gefilden tummelte. Neben elf Tieren, die an ihrem weitläufigen Schaugehege in Wittgenstein Besucher empfangen, leben derzeit 22 frei in den umgebenden Wäldern.
Die scheuen Pflanzenfresser reagieren auf Menschen mit Flucht. Brenzlich werden kann es nur dann, wenn sich eine Kuh, die ein Kälbchen führt, oder ein Bulle in der Brunftzeit bedrängt fühlen. „Das ist bei Wildschweinen aber auch nicht anders“, erklärt der Ranger. „Unser Wald ist jedenfalls nicht gefährlicher geworden.“ Wer einem Wisent etwas länger zuschaut, der möchte zustimmen: Der größte Landsäuger Europas zeichnet sich durch elefantengleiche Gelassenheit aus. Er kann es sich leisten, schließlich liegen die Gardemaße eines männlichen Tiers bei überragenden zwei Metern Schulterhöhe, drei Metern Länge und einer Tonne Gewicht. „Aber das sind Maximalwerte. Von den Bullen, die ich europaweit gesehen habe, gelang das höchstens einem“, relativiert Born, der selbst die Zwei-Meter-Marke touchiert. Trotzdem ist die Begegnung mit dem „Europäischen Bison“ ein eindrucksvolles Erlebnis – zumal in freier Wildbahn: Der „König der Wälder“ besitzt einen standesgemäß imposanten Auftritt. Am auffälligsten: sein urig markanter Schädel, den er mit zwei nach innen gebogenen Hörnern meist unten trägt. Dahinter ragen die massigen Schultern auf, der nach oben gewölbte Widerrist, getragen von einer mächtigen Brust. Sein dunkelbraunes Fell, das sich an Kopf und Brust zu einem dichten Pelz auswächst, verläuft ins Rötliche. Die Kühe fallen weniger urig und deutlich kleiner aus, dafür überleben sie ihre majestätischen Bullen erheblich. Bis zu 24 Jahre können die Weibchen erreichen. Vielleicht ein geschickter Schachzug von Mutter Natur, denn das Leittier einer Herde ist stets eine lebenserfahrene Kuh.
Nach so viel Artenkunde zurück zu Jochen Born und der Frage: Wie wird man eigentlich Wisent-Ranger? „Durch einen Zufall“, erzählt der geborene Wittgensteiner. „Mein Patenonkel las die Stellenanzeige in der Lokalpresse und rief mich an. Ich bewarb mich, wie 97 andere auch, und hatte Glück.“ Bis dahin hatte er sein Geld als Viehkaufmann verdient, die letzten fünf Jahre arbeitete er fest angestellt bei einem Schlachtunternehmen. Seinen heutigen Arbeitsalltag bestimmen nun nicht mehr Verkehrsstau und Terminlogistik, sondern viel mehr die Jahreszeiten: Die Wisent-Welt liegt im Rothaargebirge, das auf bis zu 840 Höhenmetern ansteigt. Solide Schneelagen, die sich über Wochen halten, gehören zu jedem Winter. Dann muss Born füttern: Silo, Heu, Mais, Rüben. Neben den Tieren im Gehege bekommen auch die frei lebenden ihre Ration. „Ansonsten lässt sich Wisent-Ranger auch übersetzen mit ‚Mädchen für alles‘“, lacht der 43-Jährige. Neben aller anfallenden Tier- und Gehegepflege führt er Besuchergruppen, unterstützt Wissenschaftler bei ihrer Projektarbeit und spielt Wisent-Mutter: Vier Flaschenaufzuchten hat er bislang absolviert. Wobei das erste Flaschenkind, die zutrauliche Kuh „Quelle“, selbst schon Nachwuchs bekommen hat.
Was aber war sein bislang eindrucksvollstes Erlebnis? Ganz klar: der Tag X, die Ankunft der ersten Wisente vor sieben Jahren. „Und was macht unser Bulle Egnar? Der bricht direkt aus dem nagelneuen Eingewöhnungsgehege aus“, erinnert sich Born. Kaum hatten sich die Türen der Lkw geöffnet, die insgesamt neun Neuankömmlinge aus unterschiedlichen Zuchtstationen und Tierparks herbeibrachten, „stolperte Egnar auch schon durch den Zaun“. Während er das erzählt, hält sich Born den Kopf mit beiden Händen. „Ich bin bis heute davon überzeugt, dass der noch total benebelt war vom Transportstress.“ Wie auch immer: 200 geladene Gäste, die zu Ehren des neuen Artenschutzprojekts anreisten, gerieten in Aufruhr. Aufgabe des Wisent-Rangers war es, den Entlaufenen wieder einzufangen, nicht ohne Kreisveterinär und Betäubungsgewehr. Unterm Strich bestanden er und auch Egnar die Feuerprobe.
Heute, sieben Jahre später, hat sich das einstige Greenhorn fest etabliert: Der freiheitsliebende Egnar ist einer der „amtierenden“ Bullen. Er gehört zu der Herde, die seit 2013 wild lebt, stetig wächst und gedeiht. Wobei der Patriarch auch hier seine Spuren hinterließ: Sechs aufstrebende Jungbullen überlebten die Rangordnungskämpfe mit ihm bislang nicht. Meist jedoch geht es ausgesprochen friedlich zu in der Wisent-Welt. So erinnert sich Jochen Born noch genau daran, als das erste Kälbchen geboren wurde: „Besucher des Geheges hatten es bemerkt und mir davon erzählt. Abends, als alle weg waren, habe ich dann zu meiner Frau gesagt: ‚Komm, das schauen wir uns an.‘ Und so saßen wir ganz allein da, alles still, nur hin und wieder das Grunzen zwischen Kuh und Kalb. Gänsehaut- Feeling.“ Wisente, das muss erklärt sein, muhen nicht wie Milchkühe, sondern grunzen eher – so wie Schweine. Die mag Jochen Born übrigens auch. Denn abends, wenn er seinen Ranger-Hut abnimmt, fährt er den Berg hinunter ins nahe Wingeshausen. Hier lebt er mit fünf Kindern und seiner Frau. Zusammen betreiben beide einen Naturhof, halten 25 Bunte Bentheimer Schweine und gut 70 Schottische Hochlandrinder, deren Fleisch sie lokal vermarkten. Denn Wisente, die sind ja gut und schön, aber von der richtigen Landwirtschaft konnte der begeisterte Bauer dann doch nicht die Finger lassen.
Das große Problem: Wisente schälen Laubbäume
Wisente lieben es, Baumrinden abzuschälen und zu fressen, vorwiegend die von Rotbuchen. „Warum, weiß kein Mensch“, sagt Wisent-Ranger Jochen Born. Fest steht nur: „Das Schälverhalten der wild lebenden Herde ist ein echtes Problem. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, könnte das ganze Artenschutzprojekt scheitern.“ Bisherige Lösungsversuche, etwa mit Futterzusatzstoffen, die die „Wisent-Welt Wittgenstein“ aufgrund eines wissenschaftlichen Gutachtens unternahm, liefen bislang ins Leere. Derweil gingen die frei lebenden Wisente, derzeit sind es 22, ihrer Leidenschaft für Buchenrinden nach. Dabei hielten sich die Wildtiere naturgemäß an keine Kreis- und Eigentumsgrenzen.
Auf 7.500 bis 10.000 Hektar schätzt Born ihr heutiges Revier. Davon zählt das ursprüngliche Projektgebiet nur 4.300 Hektar. Sie fallen in den Besitz des Adelshauses Sayn- Wittgenstein, dessen jüngst verstorbenes Oberhaupt, Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, das Natur- und Artenschutzprojekt „Wisente am Rothaargebirge“ initiierte. Die Eigentümer der anderen Revier-Hektare sind Waldbauern aus den benachbarten Kreisen Hochsauerland und Olpe. Sie sorgen sich um ihren bewirtschafteten Besitz und ihre Bäume. Ist deren Rinde stark beschädigt, müssen sie vor der Zeit geschlagen werden. „Wobei ein Fonds, den das Land NRW eingerichtet hat, für die Schäden aufkommt“, erklärt Jochen Born. Bis zu 50.000 Euro erhalten die Geschädigten pro Jahr aus diesem Topf. Es bleibt die Frage: Wie soll es mit den wilden Wisenten weitergehen? Und mit dem ganzen Projekt, das nicht nur dem Artenschutz, sondern auch dem abgelegenen Wittgenstein viel öffentliches Interesse beschert? Die Fronten zwischen den Interessengruppen scheinen verhärtet, längst sind sie vor Gericht und durch die Instanzen gezogen. Nun hat der Bundesgerichtshof in Karlsruhe zu entscheiden.
Text: Kerstin Rubel. Publikation: Zum Hofe (02/2017). Herausgeber: QS Qualität und Sicherheit. Bildnachweis oben: Shutterstock (Georgii Shipin). Bildnachweis darunter: Wisent Welt Wittgenstein