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Low-Stress-Stockmanship hat wenig mit Cowboyromantik zu tun, mehr mit dem Management von Rinderherden. Es geht um Effizienz, Kontrolle und mehr Freude an der Arbeit. Besser: Freude an der Zusammenarbeit. Denn daran beteiligt sind immer zwei: Mensch und Rind. Der gelernte Landwirt und Agraringenieur Philipp Wenz trainiert seit 2008 Herdentiere und deren Besitzer. Seine Methode allerdings stammt aus den USA. Ehrensache.

Fangen wir mal ganz von vorne an: Wie sind Sie überhaupt zum Stockmanship gekommen? „Als landwirtschaftlicher Betriebsleiter habe ich mich immer wieder über das Handling unserer Mutterkuhherden geärgert. Sie verlieren leicht den Kontakt zum Menschen. Das tägliche Melken und Füttern entfällt, die Kühe kalben allein auf der Weide, sie sind sehr selbstständig. Ging es nun also an den Weideumtrieb, das Absetzen der Kälber, das Aussortieren und Verladen, dann waren für 50 Kühe und deren Nachwuchs rasch sieben, acht Leute vonnöten. Der halbe Betrieb lag lahm! Hinzu kam noch: Niemand hatte Lust. Schnell wurde die Arbeit hektisch und dann auch gefährlich. Ich habe einfach nach einer Lösung gesucht. ‚Irgendwie muss das doch anders gehen‘, hab ich mir gesagt. Heute erledige ich die gleiche Aufgabe viel sicherer und schneller, allein oder mit einem Helfer.“ Und wie schaffen Sie das? „Das ganze Geheimnis liegt darin, sich richtig zum Tier zu positionieren und zu bewegen. Es gibt einen Balancepunkt, etwa auf Schulterhöhe, der ist häufig entscheidend. Stehe ich nur einen halben Schritt davor, weicht das Rind zurück, stehe ich treibend dahinter, geht das Tier vor. Eben ein Balancepunkt.“

Nun werden Rinder in unseren Breiten schon ewig gehalten. Bauernfamilien leben seit Generationen mit ihnen, ihre Kinder sind von klein auf an den Umgang gewöhnt. Wieso brauchen wir jetzt Stockmanship? „Man kann es sich so vorstellen: In unseren früheren, eher kleinbäuerlichen Strukturen konnte sich die Kuh an den Menschen gewöhnen. Das tägliche Füttern, das manuelle Misten und Melken bot ihr reichlich Gelegenheit, die andere Spezies kennenzulernen. In eher großen Beständen und Mutterkuhherden ist es umgekehrt: Es ist an uns, zu verstehen, wie das Herdentier tickt, wie es in seinen natürlichen Verhaltensweisen funktioniert.“

Sie arbeiten ja nicht nur mit Weidetieren, sondern auch mit Milchkühen. Stellen Sie Unterschiede zwischen eher manuell geprägten und stark mechanisierten, großen und kleinen Betrieben fest? „Auch reine Familienbetriebe, die im Vollerwerb von ihren Milchkühen leben, kommen ohne Automatisierung nicht aus. Daraus entstehen Probleme, die es in der traditionellen Rinderhaltung so nicht gab. Letztlich lässt sich alles auf eine Formel bringen: Wer quantitativ wächst, steht qualitativ vor Herausforderungen. Deshalb musste ich eines Tages auch in die USA reisen.“


Philipp Wenz flog 2004 erstmals in die USA, um seine heutige Methode, das Low-Stress-Stockmanship, kennenzulernen. Zu dieser Zeit leitete er einen ostdeutschen Betrieb mit 800 Rindern. Einmal Blut geleckt, folgten weitere Amerikareisen. 2008 dann hängte der Familienvater sein Anstellungsverhältnis an den Nagel und machte sich als Trainer und Ausbilder für Stockmanship selbstständig.

Wer interessiert sich für Stockmanship, wer ist Ihre Kundschaft? „Anfangs habe ich vor allem an Landwirte gedacht, ich bin ja selbst einer. Aber mit der Zeit kamen Tierärzte hinzu, Klauenpfleger, Spediteure oder Schlachter, also auch Dienstleister, die nur punktuell mit den Tieren zu tun haben. Und tatsächlich gibt es einige Hilfestellungen, die im Handumdrehen jedem helfen.“

Das heißt, Sie stellen sich in Ihren Seminaren einer fremden Herde? „Genau. Bei meinen Einführungsseminaren beispielsweise stelle ich vormittags die Theorie vor, nachmittags geht es raus auf die Weide oder auch in den Stall. Es ist immer eine völlig fremde Herde, auf die ich treffe. Welche Vorerfahrungen sie mitbringt, sehe ich erst, wenn ich anfange, mit ihr zu arbeiten. Sind es flüchtige Weidetiere, kann ich mich anfangs vielleicht auf 100 Meter nähern. Nach einer Stunde sind es zehn Meter. Noch ein wenig später lässt sich die ganze Herde geschlossen durch ein Gatter treiben.“

Eine Stunde, die man seinen Kühen hinterherläuft, kann ganz schön lang werden – und nervtötend … „Ja, klar, das Stöhnen kenne ich: ‚Eine Stunde!‘ Man muss bedenken, dass die Tiere mich nicht kennen – und umgekehrt. Wenn ein Landwirt mit seinen Kühen in Übung ist, Vertrauen und gemeinsame Erfolge entstehen, dann sieht die Zeitbilanz anders aus. Zumal er keine Helfer braucht, die können währenddessen andere Aufgaben erledigen.“

Wenn wir schon bei der Nutzenrechnung sind: Welche Vorteile verspricht Stockmanship insgesamt? „Letztlich geht es darum, dass ich mit meiner Herde wirklich arbeiten kann, dass ich sie kontrollieren kann. Wie oft bleibt beispielsweise ein kränkelndes Rind unbehandelt, einfach weil man nicht herankommt. Dabei sollte das Selektieren doch eine Selbstverständlichkeit sein. Schlussendlich bringt Stockmanship mehr Kontrolle, Sicherheit, Effizienz in den Betriebsabläufen und viel mehr Freude am Job. Habe ich Stress auf dem Hof, dann wirkt der immer in zwei Richtungen: auf die Tiere und auf mich.“

Wenn mich diese Methode mit all ihren Vorzügen nun überzeugt, wie fange ich an? „Indem Sie beobachten. Häufig höre ich von meinen Teilnehmern, auch von den kritischen, dass ihnen nach dem ersten Seminar plötzlich ganz andere Verhaltensweisen an ihren Rindern auffallen. Sie sehen Zusammenhänge, die ihnen vorher nicht bewußt waren. Dann fangen sie an zu experimentieren und sind erstaunt, was da alles in Gang kommt. Letztlich muss der Groschen bei jedem Einzelnen fallen. Wenn ich das Funktionieren nicht für möglich halte, werde ich eine neue Methode auch nicht ausprobieren.“


Mehr als dieses „Für-möglich-Halten“ hatte auch Bud Williams nicht, der Begründer des Low-Stress-Stockmanships. Der Farmerssohn wuchs in den 1930er Jahren im US-Bundesstaat Oregon auf. Dort hörte er die alten Geschichten von Männern, die einst, ganz auf sich gestellt, riesige Weideherden in der Prärie oder auf den Bergen zusammenhalten konnten. Allein aus diesen Erzählungen, dem Vertrauen „irgendwie muss das gehen“, entwickelte Williams das heutige Stockmanship, das er als Methode schließlich lehrte und an Interessierte wie Philipp Wenz weitergab. Der Begriff übrigens leitet sich ab von Viehbestand (Stock) und Mensch (Man). Die Endung „ship“ verhält sich ähnlich wie das deutsche „schaft“, etwa in Freundschaft.


Dem Stockmanship eilt ein gewisser Nimbus voraus, so wie der Pferdeflüsterei. Woher kommt das eigentlich? „Frappierend für meine Zuschauer – und auch für mich – ist immer wieder, wie schnell es mit einer Herde besser wird. Ich weiß natürlich nie, wie weit ich in der vorhandenen Zeit komme, was ich aber weiß: Es wird deutlich besser sein als alles vorher. Letztlich bin ich immer wieder erstaunt, was die Tiere für und mit uns tun. Es sind nur wenige Zentimeter, fünf Minuten mehr Geduld – und dann arbeitet die ganze Herde plötzlich mit. Sie lässt sich exakt in die Richtung und in dem Tempo treiben, das ich vorgebe. Ganz leicht, ganz ruhig. Und letztlich zeigt sich doch nur das ganz natürliche Verhalten des Herdentiers. Es für sich zu nutzen ist aber in der Tat ein Balanceakt.“

Kann Stockmanship eigentlich jeder lernen, auch Menschen, die mit Mitte zwanzig erstmals vor einer Kuh stehen? „Ja, das kann jeder lernen. Wobei es, wie überall, dem einen leichter fällt als dem anderen. Fleiß und Wille müssen manchmal das mangelnde Talent ausgleichen. Auch habe ich festgestellt, dass Menschen, die bislang nur mit Kleintieren zu tun hatten, einen Höllenrespekt vor der Masse Kuh haben können. Wer Großtiere von klein auf kennt, besitzt ein gewisses Selbstverständnis im Umgang, er hat schon eigene Erfahrungen gesammelt und Selbstvertrauen. Trotzdem gilt: Lernen kann das jeder.“


Philipp Wenz tourt als Stockmanship-Trainer durch Deutschland und das benachbarte Ausland. Dabei arbeitet der 48-Jährige nicht nur mit Rindern, sondern auch mit anderen Weidetieren: Pferden, Schafen, Alpakas. Wer ihm dabei zuschaut, sieht nur einen Mann, der im ruhigen Tempo, ohne einen Laut über eine Weide oder durch einen Stall geht. Die Tiere bewegen sich dabei wie von Geisterhand. Kein Druck, keine Hektik, kein Herumfuchteln mit den Armen.


Nun gibt es unter den stressfreien Methoden ja auch die des Lockens mit Futter. Ist das keine gute, traditionelle Alternative? „Das Locken ist eine schöne Methode, viele Tierhalter nutzen sie und trainieren ihre Herde auf den Futtereimer. Das Problem ist nur: Sobald Unsicherheit aufkommt – und die kann eine Arbeit wie das Sortieren auslösen –, funktioniert das Locken nicht mehr. Letztlich liegt das an einer recht naiven Sichtweise auf unsere Beziehung zum Tier.“

Welche Sichtweise meinen Sie? „Nun, viele Rinderhalter denken: ‚Wenn ich meine Tiere anfassen kann, habe ich ein gutes Verhältnis zu ihnen.‘ Und tatsächlich ist Streicheln etwas sehr Schönes. Es darf aber nicht mit Zusammenarbeit verwechselt werden. Ein Beispiel: Ich traf einen Landwirt, der hatte sich sehr viel Arbeit mit seinen handzahmen Kühen gemacht. Aber wenn er etwas von ihnen wollte, dann kam er nicht mehr an sie heran. Kühe sind extrem gute Beobachter, sie erkennen sofort: Der kommt heute nicht nur, um nett zu sein. Der will was! Wenn ich also nur auf Locken und Streicheln setze, dann stoße ich als Praktiker immer wieder an Grenzen – das nervt einfach.“

Für Sie sind Rinder eher ‚Mitarbeiter‘, von denen Sie schlichtweg etwas verlangen, nicht wahr? „Genau. Stockmanship ist für mich kein Goody, sondern die Basis meines Herden-Managements. Dabei muss ich hier nicht mehr investieren als Aufmerksamkeit und anfangs etwas Zeit, um mit meinen Tieren zu üben. Dieses Üben ist aber etwas völlig anderes, als ein Rind so lange über die Weide zu jagen, bis es schweißnass und entkräftet aufgibt. Ich möchte mit den Tieren stressfrei zusammenarbeiten. Dabei sollen sie vertrauen, verstehen und tun, was ich von ihnen möchte. Ihre Bereitschaft dazu ist erstaunlich.“

Text: Kerstin Rubel. Publikation: Zum Hofe (01/2017). Herausgeber: QS Qualität und Sicherheit. Bildnachweis: Shutterstock (Jerek Vaughn, Poring Studio, SehrguteFotos)